In Deutschland sind 4,6 Millionen Menschen im Alter von 18 bis 79 Jahren an Diabetes erkrankt. Das sind 7,2 Prozent aller Erwachsenen. Diese Menschen dürfen nun hoffen: Wiener Wissenschaftler haben eine richtungweisende Technologie entwickelt, durch die Zuckerkranken das Weiterleben gesichert werden kann.
Diabetes birgt ein erhöhtes Risiko für Folgeerkrankungen wie Schlaganfälle, Nierenversagen, Erblindung und Herzinfarkte. Das sind nur ein paar Folgen einer Zuckererkrankung. Die Liste ließe sich mühelos fortführen. Die Gesundheitskosten sind immens. Laut Schätzungen der WHO (World Health Organization) verursacht die Volkskrankheit jährlich Kosten in Höhe von 825 Milliarden US-Dollar. Die Weltgesundheitsorganisation gibt an, dass 2016 422 Millionen Erwachsene weltweit an der Krankheit litten.
Infografik der WHO zum Thema Diabetes-Erkrankungen weltweit. © WHO
Perfekte menschliche Blutgefäße aus der Petrischale
Diese Zahlen forciert die Forschung, weshalb Wissenschaftler auf der ganzen Welt mit Hochdruck an neuen Technologien zur Behandlung der Krankheit arbeiten. Ein IMBA-Team (Institut für Molekulare Biotechnologie) aus Wien ist laut einem Bericht des Fachmagazins „Nature“ nun der angesprochene Durchbruch gelungen. Das Wissenschaftsteam des Instituts für Molekulare Biotechnologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften selbst schreibt, das es Wissenschaftlern das erste Mal gelungen sei, perfekte menschliche Blutgefäße als Organoide in einer Petrischale heranzuzüchten. Und dies aus Stammzellen.
Diese bahnbrechende Technologie ermöglicht es, sämtliche Gefäßerkrankungen direkt am menschlichen Gewebe zu erforschen
Das birgt einen völlig neuen Ansatz für die Therapie von unter anderem Diabetes. Aber was führt zur Diabetes? Schlichtweg eine krankhafte Veränderung der Blutgefäße, Kapillaren genannt, die jede einzelne Zelle unseres Körpers mit lebenswichtigen Nährstoffen und Sauerstoff versorgen. Diese krankhafte Veränderung der Gefäße führt zu einem enormen Anstieg der Diabetes-Erkrankungen weltweit. Diese Schädigung der Blutgefäße führt eben zu den oben genannten Folgeerkrankungen.
Um die Erkrankung zu bekämpfen und gerade die eklatanten Folgen zu vermeiden, ist eine neue Therapie für Diabetes dringend notwendig. Forschern war es allerdings bisher nur beschränkt möglich, den molekularen Ursachen, die zur Veränderung der Gefäße führt und die Krankheit hervorruft, nachzugehen. Nun steht den Wissenschaftlern die Stammzellenforschung zur Verfügung, die sich in den vergangenen Jahren zur wichtigsten treibende Kraft der Grundlagenforschung entwickelt hat. Es können kleine organähnliche Strukturen aus Stammzellen im Labor gezüchtet werden, die Prozesse der Organentwicklung und der Krankheitsentstehung beim Menschen widerspiegeln.
Ein Meilenstein der Stammzellinitiative: Blutgefäß-Organoide aus dem Labor
Das Bahnbrechende an der Entwicklung ist die Tatsache, ein Organoid-System für Blutgefäße erschaffen zu haben. Diese werden im Labor aus induzierten pluripotenten Stammzellen (iPSC) kultiviert und ahmen die Struktur und Funktion menschlicher Kapillaren nach. So können die Forscher dank des neuen Modellsystems die Krankheitsentstehung in menschlichen Blutgefäßen, wie bei Diabetes, im Labor reproduzieren. Denn die Prozesse, die zu den Folgen einer Diabetes führen, finden meistens in den kleinsten Zweigen des Gefäßsystems – den Kapillaren – statt.
Die Simulation „diabetischer Verhältnisse“ in der Petrischale, war ein Nährmedium mit einer Kombination aus hohem Zuckeranteil und Entzündungsstoffen. In Zusammenarbeit mit Prof. Dr. Dontscho Kerjaschki, Pathologe an der MedUni Wien, konnten die Schäden an den diabetischen Blutgefäß-Organoiden mit Biopsien diabetischer Patienten verglichen werden. Reiner Wimmer erklärt, dass die Forscher überraschenderweise die diabetestypische Verdickung der Basalmembran in den zuckerkranken Organoiden hätten beobachten können. Diese würden den Gefäßschäden bei Diabetikern sehr ähneln.
Für Experten:
Die Blutgefäß-Organoide können im Hochdurchsatz in einer 96er Mikrotiterplatte hergestellt werden. In einem nächsten Schritt testeten die Wissenschaftler verschiedene chemische Verbindungen an den im Labor gezüchteten „zuckerkranken“ Blutgefäßen, um die typische Ausprägung der Krankheit zu verhindern.
Sie überprüften aktuelle Medikamente sowie kleine Moleküle, die verschiedene Signalwege blockieren. Kein einziges der getesteten zugelassenen Medikamente gegen Diabetes hatte einen Effekt. Jedoch zeigten sich 2 Proteine eines Signalweges als besonders vielversprechend: Notch3 und Dll4 regulieren die Verdickung der Basalmembran maßgeblich. Auch in den Blutgefäßen von Diabetes Patienten fanden die Forscher eine erhöhte Aktivität von Notch3, genauso wie in den Organoiden. Blockiert man nun jenen Signalweg durch ein kleines Molekül, so wäre dies ein völlig neuer Ansatz für die Behandlung von Diabetes.
„Das Spannende an unserer Arbeit ist, dass es uns gelungen ist, echte menschliche Blutgefäße aus Stammzellen herzustellen. Unsere Organoide sind den menschlichen Kapillaren unglaublich ähnlich und erlauben uns erstmals, Blutgefäßerkrankungen direkt am menschlichen Gewebe zu untersuchen.“
(Reiner Wimmer, Postdoc am IMBA und Erstautor der aktuellen Publikation in „Nature“)
422 Millionen Diabetiker weltweit dürfen sich freuen und auf Genesung hoffen
Was die Forscher damit sagen möchten ist, dass sie es zum ersten Mal geschafft haben, menschliche Blutgefäße aus Stammzellen im Labor zu züchten. Das bedeutet auch, dass das Team rund um Reiner Wimmer nicht mehr auf Tierversuche angewiesen ist. Dessen Ergebnisse sind meist sowieso schwer auf den Menschen übertragbar. Ab sofort können die hellen Köpfe der Akademie die Krankheit an menschlichem Gewebe erforschen.
Neues Modellsystem: Bessere Therapie für Diabetes, Krebs und Alzheimer
Gründungsdirektor des IMBA und Letztautor der Studie, Josef Penninger, sagt, dass mit der Entwicklung dieser Blutgefäß-Organoide ein wichtiges Modellsystem für die Biomedizin geschaffen worden sei. Des Weiteren sei es möglich nun ein breites Spektrum an Behandlungen von Gefäßerkrankungen zu entwickeln, die von Diabetes, Alzheimer, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Wundheilung oder Schlaganfall bis hin zu Krebs reichten.
„Vaskuläre Organoide, die aus iPS-Zellen gewonnen werden, stellen ein bahnbrechendes Modell dar, das es uns ermöglicht, Ätiologien und Behandlungen für ein breites Spektrum von Gefäßerkrankungen zu entwickeln, die von Diabetes, Alzheimer, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Wundheilung oder Schlaganfall bis hin zu Krebs reichen.“
(Josef Penninger, Gründungsdirektor des IMBA und Letztautor der aktuellen Studie)
Leben retten: Technik des Instituts für Molekulare Biotechnologie ist zukunftsweisend
Blutgefäße seien nicht nur die kleinsten Kapillare mit einem Durchmesser von wenigen Mikrometern, sie versorgen unseren ganzen Körper über einen Gefäßbaum mit Blut, der aus größeren Blutgefäßen beseht. So gelangt das Blut über Arterien, Kapillaren zu den Organen, in denen der Blutfluss verlangsamt wird und der Sauerstoffaustausch stattfindet. Venen führen das Blut zurück zu Lunge und Herz, wodurch es zirkuliert. Und das macht sie so lebenswichtig: Jede Zelle des Körpers wird von ihnen mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt.
„Mit der Entwicklung der Blutgefäß-Organoide aus Stammzellen haben wir ein wichtiges Modelsystem für die Biomedizin geschaffen. Dies ermöglicht es uns nun, Ursachen eines breiten Spektrums von Gefäßkrankheiten wie Diabetes, Wundheilung, Schlaganfällen, Seltenen Erkrankungen, bis hin zu Krebs, gezielt zu erforschen und hoffentlich neue Behandlungen zu entwickeln.“
Und weiter:
„Jedes einzelne Organ in unserem Körper ist mit dem Kreislauf verbunden, und die Bildung neuer Blutgefäße ist ein Schlüsselelement für das Wachstum von Krebserkrankungen. Es gibt auch viele seltene Krankheiten, die die Blutgefäße betreffen und z. B. bei jungen Menschen zu Schlaganfällen und Herzinfarkten führen.“
(Josef Penninger, Gründungsdirektor des IMBA und Letztautor der aktuellen Studie)
Unsere Organe sind mit diesem Kreislauf verbunden. Die Bildung neuer Blutgefäße ist ein Schlüsselelement für das Wachstum von Krebserkrankungen. Bei Diabetes ist die Membran um die Kapillare sehr vergrößert, wodurch das Geweben nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt wird. Nun ist dieses Szenario im Labor reproduziert worden. Ein Meilenstein, der vielen an Diabetes erkrankten Menschen helfen wird.
Über das IMBA
Das IMBA – Institut für Molekulare Biotechnologie ist das größte Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) mit dem Fokus auf zukunftsweisende Grundlagenforschung. Zwölf Forschungsgruppen stellen sich den molekularen Rätseln und unerforschten Gebieten der Molekularbiologie und Medizin. Erkenntnisse aus den Bereichen Zell- und RNA-Biologie, molekularer Medizin und Stammzellbiologie bilden den Nährboden für eine Medizin der Zukunft.
Originalpublikation
Reiner A. Wimmer, et.al. Human blood vessel organoids as a model of diabetic vasculopathy.
https://doi.org/10.1038/s41586-018-0858-8
Josef Penninger leitet seit Dezember das Life Science Institut der Universität British Columbia und ist Letztautor der aktuellen Studie.
(lm)